VR-Reportage in Irak: 360° Troubleshooting

Im Kampf gegen den IS: Für zwei VR-Dokus hat IntoVR-VJ Christiane Wittenbecher in Irak gedreht. Keine leichte Aufgabe. Hier beschreibt sie, wie sie mit 360°-Kameras arbeitet, wenn nichts vorhersehbar ist. Dazu viele Fotos von den Dreharbeiten.

Eine viel befahrene Straße in Kirkuk im Nordirak. Ich drehe eine Einstellung mit der 360-Grad-Kamera, als plötzlich ein kurdischer Polizist hastig auf mich zueilt. Instinktiv ertaste ich, ob ich meine Dokumente dabei hab.
Im Näherkommen stellt sich schnell heraus, er möchte nur gern mit der deutschen Reporterin und ihrer 360-Grad-Kamera auf ein Foto.
IntoVR-VJ Christiane Wittenbecher beim 360°-Videodreh in Irak.
IntoVR-VJ Christiane Wittenbecher beim 360°-Videodreh in Irak.
Deutlich angespannter ist die Atmosphäre in der Militärzone nahe der umkämpften irakischen Millionenstadt Mossul. Im Krisengebiet lassen sich Einsätze nicht detailliert planen. Auch für eine klassische Videoproduktion schon eine Herausforderung. Spontane Drehs sind mit der 360-Grad-Kamera noch schwieriger.
Bevor ich die Kamera auslösen kann, muss ich die Position der Kamera gut durchdenken. Steht sie nahe genug an dem Geschehen und handelnden Personen? Ist die Höhe richtig eingestellt? Steht sie stabil und wackelfrei?
Wichtig ist auch, dass sich das entscheidende Geschehen nicht in der sogenannten „Stitchline“ abspielt. Das ist die Linie, in der die Kameras sich überlappen und das Bild später in der Stitching Software „zusammengenäht“ wird, die Naht sozusagen. Zudem muss ich der Kamera vor dem Auslösen ein Synchronisationssignal geben, damit sich die Bilder im Nachhinein passend anlegen lassen.
Back-to-back-360°-Kamera mit Entaniya-Linsen im Auto.
Back-to-back-360°-Kamera mit Entaniya-Linsen im Auto.
Eine der ersten kritischen Szenen ereignet sich am ersten Drehtag: Ich bin mit einem General zum Interview verabredet, als plötzlich das Kommando zum Ausrücken kommt.
Ich darf die Peschmerga-Kräfte zu einem leer stehenden Haus begleiten, in dem vier IS-Terroristen gestellt worden sind. Es muss schnell gehen, daher entscheide ich mich, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen und die Back-to-Back-Kamera (auf Gopro-Basis mit Entanyia-Linsen) so zu platzieren, dass die Stitchline parallel zur Frontscheibe ausgerichtet ist.
Obwohl der Innenraum relativ geräumig ist, ergeben sich einige Bildfehler, die manuell in der Software repariert werden müssen. Wäre mehr Zeit gewesen, hätte ich mich für eine Lösung entschieden, bei der die Kamera auf dem Beifahrersitz fest montiert wäre und ich selbst nicht im Bild bin.
Der Raum, in dem die IS-Verdächtigen festgehalten werden, ist dunkel und eng. Mit verbunden Augen stehen die vier Männer mit dem Gesicht zur Wand, hinter ihnen der General und seine Peschmerga-Kräfte.
Aus der 360°-Szene mit der Festnahme der IS-Kämpfer wird später das Titelbild bei BlickVR.
Aus der 360°-Szene mit der Festnahme der IS-Kämpfer wird später das Titelbild bei BlickVR.
Ich kann nicht abschätzen, in welche Richtung die IS-Leute abgeführt, wo sie befragt werden, also entscheide ich mich hier, die Kamera direkt vor den vier Verdächtigen aufzustellen. Das Risiko, dass die Peschmerga-Soldaten die Stitchline übertreten nehme ich zugunsten der Nähe in Kauf. Auch hier bin ich noch im Raum, um schnell reagieren zu können.
In den meisten Situationen suche ich ein Versteck, um selbst nicht auf dem Bild zu sein. Ein herumstehender Reporter trübt das immersive Erlebnis für den Nutzer, da er den Blick ablenkt. Auch das obligatorische Verstecken nach dem Auslösen der Kameras kann in einer Militärzone im Kriegsgebiet zu Irritationen führen.
Man stelle sich die kritischen Blicke irakischer Soldaten vor: Eine Frau positioniert ein merkwürdiges Etwas auf einem Stativ, verschwindet dann eilig hinter einem Haus oder großem Gegenstand und löst dann konzentriert ein kleines schwarzes Audiogerät aus.
Freedom360 im Einsatz für BlickVR in Irak.
Freedom360 im Einsatz für BlickVR in Irak.
Auch der Umgang mit Interviewpartnern, Protagonisten vor der Kamera erfordert bei 360° mehr Vorbereitung und Sensibilität. Da ich als Reporter auf den meisten Bildern nicht zu sehen sein möchte, bitte ich die Gesprächspartner direkt in die Kamera zu sprechen. Eine ungewohnte Situation für die meisten Menschen.
Zwar höre ich die Antworten in Echtzeit über mein Audiogerät, das mit dem Funkmikrofon am Körper der Person befestigt ist, doch für den Gesprächspartner fehlt der direkte Blickkontakt zu demjenigen, der die Fragen stellt. Darauf müssen Menschen gut vorbereitet sein, erst recht, wenn sie die Technologie nicht kennen oder sie eine andere Sprache sprechen.
Wenn es klappt, wirkt es für den Nutzer in der VR-Brille, als spräche er selbst mit der interviewten Person. Am stärksten ist mir hier eine Szene im Gedächtnis geblieben, in der eine verschleierte Frau, die erst Minuten zuvor von irakischen Soldaten aus den Gefechten in Mossul befreit worden ist, ihre Wut und Trauer unmittelbar in die Kamera erzählt. Ihre Gefühle, ihre Geschichte wirkt umso stärker, weil sie ohne nachzudenken drauf los spricht. Diese Szene ist das Auftaktbild der zweiten Films, der bei BlickVR demnächst erscheint.
Ein kurdischer Soldat vor seinem Haus. Der 360°-Dreh im privaten Umfeld verschafft Nähe
Ein kurdischer Soldat vor seinem Haus. Der 360°-Dreh im privaten Umfeld verschafft Nähe.
Bei Interviews entscheide ich mich meist für die Back-to-Back-Kameralösung, in unserem Fall die Gopro-Lösung mit zwei 250° -Linsen von Entanyia. Das ermöglicht es, die Kamera relativ nahe vor den Gesprächspartner zu platzieren, ohne durch den Parallax-Effekt verursachte Fehler im Bild zu riskieren.
Die Stitchline verläuft in dem Fall meist parallel zum Interviewten, die Mimik und Gestik ist damit von einer Kamera zu 100% abgedeckt. Aber auch hier muss natürlich der Parallax-Effekt links und rechts vom Interviewpartner berücksichtigt werden, ebenso wie die Sonneneinstrahlung, die das Gesicht möglichst gut beleuchten soll, aber mit einem Schattenwurf des Stativs samt Kamera verbunden ist. Dieser Schatten sollte möglichst nicht auf der Kleidung oder im Gesicht des Interviewten zu sehen sein.
Für das Mount aus sechs Gopro-Kameras (Freedom360) entscheide ich mich meist dann, wenn es sich nicht um ein Interview handelt und ich nicht in engen Räumen drehe. Besonders, wenn die Szene wichtig und stark ist, sollte der das Freedom360-Mount zum Einsatz kommen, da die Bildqualität des Ausgangsmaterials bei sechs Kameras höher ist als bei der aus zwei Kameras bestehenden Back-to-Back-Lösung.
Freedom360-Kameramount aus sechs Gopro-Kameras.
Freedom360-Kameramount aus sechs Gopro-Kameras.
Im Flüchtlingscamp Khazir nahe Erbil ist das 6er-Mount deshalb von Vorteil, weil auch Dinge, die weit im Hintergrund geschehen, noch scharf und kontrastreich wirken. Die Gefahr besteht allerdings, dass Menschen zu nahe an der Kamera vorbei gehen und vom Parallax-Effekt in der Bewegung „durchgeschnitten“ werden. Der ideale Abstand hier ist eigentlich 1,50 Meter bzw. mehr. Die Frage, wann die Kamera zu nahe oder zu weit weg steht, ist bei jedem Einsatz die kniffligste und lässt sich nie 100%ig voraussagen.
Auf der fünftägigen Reise in den Norden Iraks sind zwei VR-Reportagen entstanden. Die erste ist jetzt bei BlickVR, der Virtual-Reality-App des Schweizer Medienkonzerns Ringier erschienen. BlickVR kann für iOS und Android-Smartphones kostenlos im App-Store bzw. Play-Store heruntergeladen werden.
(Text und Fotos: Christiane Wittenbecher)

 

 

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