Was sind Erfolgsfaktoren für Inhalte im Internet? Das wollte die International Journalist Post von Into VR & Video-Gründer Martin Heller wissen. Der Artikel, in der April-Ausgabe des Magazins auf Englisch veröffentlicht, hier in deutscher Sprache.
Manchmal überrascht mich die Kraft von Twitter. Normalerweise ist es schwer, einen Teenie-Sohn mit Beruflichem zu erreichen oder gar zu beeindrucken. Doch plötzlich gelang es, nicht über Tiktok oder Snapchat, über Twitter! Ein bekannter Fußball-Nationalspieler hatte eines meiner Videos retweetet. Mein damals 13-jähriger wurde in der Schule darauf angesprochen. Volltreffer.
Reichweite, Werbeerlöse, Digitalabos
Bei dem knapp eine Million Mal angesehenen Video ging es um Proteste gegen die deutsche Corona-Politik, der 41-Sekunden-Clip zeigte einen rappenden und tanzenden Demonstranten vor dem Roten Rathaus in Berlin. Und er ist ein Musterbeispiel für die virale Kraft des Internets. Klar, der Content muss überzeugen. Dazu kommen aber Faktoren, die man generalisieren und als Learnings mitnehmen kann. Und dabei geht es längst nicht nur um schnöde Reichweite in einem Social-Media-Kanal, sondern am Ende um Werbeerlöse und Digital-Abonnements. Dazu später.
Entscheidend ist zunächst immer das Verständnis der Funktionsweisen von Social Media, von Suchmaschinen und dem Nutzerverhalten auf Websites und in Apps. Und ein Gefühl für die richtige Mediengattung, die beste Ausspielform für den jeweiligen Inhalt.
SEO, Social & Co
Viele Reporter kommen entweder aus dem Bereich Print und versuchen dementsprechend stets vor allem mit der Kraft des Wortes, illustriert mit Fotos und Infografiken, ihre Inhalte zu ihren Lesern zu bringen. Zeitungen waren im Papierzeitalter nicht durchsuchbar, das Weitergeben einer Ausgabe oder eines Artikels an Freunde konnte nicht zu sogenannten Viral-Hits führen, wie sie im Netz möglich sind. Wie lange ein Artikel gelesen wird, ob die Leser umblättern, Texte mögen oder eine Meinung dazu haben, das war früher weniger relevant, wenn die Zeitung einmal verkauft war.
Und gelernte Fernsehmacher denken qua Herkunft noch sehr in linearem TV. Hier versuchen Journalisten in der Regel alle Inhalte in die Form Bewegtbild zu pressen. Wenn es kein starkes Material vom Ereignis selbst gibt, wird mit Moderation, Liveschalten, Grafiken, Archivmaterial und TV-Talks gearbeitet. Die Frage, wie viele Zuschauer einen Beitrag sehen, hängt maßgeblich von der Platzierung innerhalb des Programms oder eines linearen Streams ab, vom Vorprogramm, vom TV-Sender. Bei der klassischen Quotenmessung im TV ist es weniger wichtig, ob die Zuschauer engagiert zuschauen oder das Programm nebenbei laufen lassen.
Im Netz gilt es auch für Content-Creator, also für uns Journalisten, sich der Mechanismen bewusst zu werden, die dort jeweils zum Erfolg führen. Suchmaschinen und die Funktionsweise der Algorithmen auf Social-Media-Plattformen bestimmen über die Reichweite eines Inhalts vielmehr als der Blattmacher oder der Programmchef.
Es geht um Engagement
User-Engagement ist das Zauberwort, das Netz ist keine Einbahnstraße. Ob Interaktion oder Verweildauer: Wie der Nutzer mit einzelnen Inhalten umgeht, ist messbar und entscheidend. Wie sehr ein Inhalt die User bewegt, ist meist die entscheidende Frage. Wie erreiche ich die Zielgruppe emotional.
Video ist dabei nicht nur bei Usern sondern auch den Machern der Plattformen geschätzt, durchschnittliche Verweildauer und Preise für Werbung sind bei Bewegtbild höher. Entsprechend sind Social-Media-Algorithmen getrimmt.
Und abgesehen von schnöden Zahlen hat Journalismus im Internet das Zeug, der beste aller Zeiten zu sein. Warum? Hier gibt es eben die Chance, jeweils die beste Form für die Story zu wählen. Wann begeistert ein Fließtext, wann Bewegtbild, wo sind Fotos oder Infografiken das Mittel der Wahl, wann Audio – und wie können Nutzer durch den direkten Rückkanal im Internet eingebunden werden?
Social Video: Kanalgerechte Inhalte
Kanalgerechte Inhalte statt dem bloßen Übertragen von Content aus einer Welt in die andere ist die Grundlage. Das Verständnis für die jeweiligen Stärken der Darstellungsformen geht dabei einher mit dem Verständnis der Zielgruppe, die im Netz viel „spitzer“ sein kann als meist in TV oder Print.
Ein Hebel für Reporter ist auch das richtige Timing. Meist geht es um Schnelligkeit. Keines meiner Seminare ist schon seit Jahren so gefragt wie Mobile Reporting, das Aufnehmen, Bearbeiten und Veröffentlichen von Videos und Fotos direkt am Smartphone.
Warum also gelingt es mit einem kurzen Video, das jeder im Zentrum Berlins mit seinem Handy hätte machen können, von einem Kanal mit nur einer vierstelligen Anzahl Followern knapp eine Million Menschen und meinen Sohn auf dem Schulhof zu erreichen?
Was kann Bewegtbild im Internet
Rappen und Tanzen, der Inhalt ist prädestiniert für die Form Bewegtbild. Das Thema brisant. Der kurze Tweet-Text spricht die Nutzer an, die den Ton oder die Autoplay-Funktion nicht angeschaltet haben. Über das Hashtag werden Interessierte außerhalb der eigenen Community erreicht. Und ganz entscheidend war das Timing: noch vor Ort am Smartphone bearbeitet und veröffentlicht.
„Verschenken“ wir monetarisierbare Reichweite, wenn wir Videos direkt in Social Media veröffentlichen, bevor der Beitrag für die eigene Plattform fertig ist? Keineswegs. Im konkreten Beispiel hat eine Sechs-Minuten-Zusammenfassung, die drei Stunden später fertig war, über Website und Suchmaschinen zunächst für hohen vermarkteten Traffic und später für eine zweistellige Anzahl neuer Digital-Abos gesorgt. Und mehr als 7.500 Nutzer kamen dorthin allein über Twitter, angezogen vor allem durch das zuvor geteilte Viralvideo des rappenden tanzenden Demonstranten. Umarmen wir die Kraft des Internets.
Martin Heller, 45, ist Journalist, Dozent und Gründer der Into VR & Video GmbH in Berlin. Heller und sein Team arbeiten für nationale und regionale Medienhäuser sowie in der Aus- und Weiterbildung für mehrere Journalistenschulen und Universitäten im deutschsprachigen Raum.